Ich habe mir vorgenommen, mittels der Methode des ontogenetischen Denkens den Krankheitsmechanismus des Chronischen Erschöpfungssyndroms aufzuklären.
Wie an anderer Stelle auf welträtsel.org erklärt, besteht die Methode des ontogentischen Denkens aus drei Schritten:
- Im ersten Schritt wird das zu erklärende Phänomen möglichst umfassend in seinen verschiedenen Facetten beschrieben.
- Im zweiten Schritt wird nach einem Mechanismus gesucht, der die zuvor beschriebenen Aspekte des Phänomens zu erklären vermag.
- Im dritten Schritt wird nach einer historischen Erklärung gesucht, wie der postulierte Mechanismus entstanden bzw. ausgelöst worden sein kann.
Den ersten Schritt haben wir bereits im Artikel "Das Chronische Erschöpfungssyndrom" erledigt. Wiederholen wir die wesentlichen Aspekte, die über das Chronische Erschöpfungssyndrom bekannt sind:
- Betroffene klagen über eine verminderte körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, insbesondere eine rasche und ggf. langanhaltende Erschöpfung. Schlaf bringt nicht die gewohnte Erholung.
- Leitsymptom ist die Post-Exertionellen Malaise (PEM), die sich in einer starken Erschöpfung bei Überschreiten der individuellen (teilweise sehr niedrigen) Belastungsgrenze äußert. Die Regeneration erfolgt verzögert oder gar nicht, was zu einem allmählichen Absinken der persönlichen Belastungsgrenze führen kann.
- Bekannte Auslöser sind Infektionen, Chemotherapie, Operationen und psychische Traumata, wobei diese Ereignisse weder zwangsläufig zu einem Erschöpfungssyndrom führen müssen noch alle Betroffenen einen eindeutigen Auslöser benennen können, sondern eher von einem schleichenden Verlauf berichten.
Beginnen wir nun mit dem zweiten Schritt, der Suche nach einer kausalen Erklärung. Das hervorstechende Merkmal des Chronischen Erschöpfungssyndroms ist die verminderte körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, die sich in der Post-Exertionellen Malaise (PEM) manifestiert. Da sowohl die körperliche als auch die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist, liegt die Vermutung nahe, dass eine universelle Störung des Energiestoffwechsels vorliegt. Energie wird für alle Prozesse im menschlichen Organismus benötigt, sei es die Muskelkontraktion bei körperlicher Anstrengung oder die Nerventätigkeit bei geistiger Betätigung.
Energiestoffwechsel als mögliche Ursache
Gehen wir nun der Hypothese nach, dass das Chronische Erschöpfungssyndrom auf einer Störung im Energiestoffwechsels beruhen könnte, die näher zu bestimmen wäre. Erinnern wir uns dazu an den Biologie-Unterricht: Organismen nutzen in nahezu allen biologischen Prozessen das Molekül Adenosintriphosphat (ATP) als universellen Energieträger. Bei energieverbrauchenden Prozessen wird ATP in Adenosindiphopshat (ADP) und ein Phosphat-Ion gespalten; die dabei frei werdende chemische Energie kann für unterschiedlichste Zwecke eingesetzt werden. Damit ATP als Energieträger in der Zelle verwendet werden kann, muss zudem ein zweifach positiv geladenes Magnesium-Ion Mg2+ mit dem ATP komplexiert sein. In tierischen Zellen wird ATP vor allem in den Mitochondrien durch Oxidation von Glukose erzeugt, wobei pro Glukose-Molekül rund 30 ATP-Moleküle aus jeweils einem Molekül ADP und einem Phosphat-Ion gebildet werden. Normalerweise werden ATP und ADP im Kreislauf geführt, d.h. in energieverbrauchenden Prozessen wird ATP in ADP und einen Phosphat-Rest gespalten, während in den Mitochondrien dann das ADP wieder mit einem Phosphat beladen wird und als ATP wieder bereitsteht. Der Tagesumsatz an ATP beträgt im menschlichen Körper ungefähr so viel wie unser Körpergewicht!
Werfen wir nun noch einen Blick auf den Grundbaustein von ATP, das Adenosin, und seine physiologischen Funktionen im Körper: Adenosin besteht aus der Nukleinbase Adenin und dem Zucker Ribose. Adenosin ist Bestandteil des Erbmoleküls RNA. Außerdem spielt Adenosin eine Rolle bei der Steuerung der Aktivität des Nervensystems, da die Ausschüttung von allen belebenden und aktivierenden Neurotransmittern wie Dopamin durch Adenosin gehemmt wird. Adenosin wirkt außerdem schlafinduzierend, weil es in der Hinrregion des Hypothalamus die Wachzentren des Gehirns durch den Neurotransmitter GABA hemmt.
Adenosin fällt als Abbauprodukt des energiereichen Adenosintriphosphats (ATP) an, wenn ATP nicht nur zu ADP abgebaut wird, sondern weiter zu Adenosinmonophosphat (AMP) und unter Abspaltung des letzten Phosphatrests weiter zu Adenosin. Je höher dadurch die Adenosin-Konzentration steigt – je stärker also die Zellen auch ADP und AMP als Energiequellen heranziehen – desto mehr nimmt der Schlafdruck zu. Beim Schlafen wird der Überschuss an Adenosin normalerweise wieder beseitigt und der Schlafdruck sinkt dadurch. Morgens fühlen wir uns dann normalerweise wieder frisch und energiegeladen. Der Schlafrhythmus wird aber nicht allein oder vorrangig vom Adenosin gesteuert, sondern der primäre Taktgeber ist das tageszeitabhängig freigesetzten Hormon Melatonin. Morgens sinkt die Konzentration von Melatonin und wir wachen auf. Wenn man also morgens aufwacht und sich weiterhin schlapp fühlt, wie es für ME/CFS-Patienten typisch ist, deutet dies auf einen ungewöhnlich hohen Adenosin-Spiegel im Gehirn. Der Nachtschlaf hat also nicht zu einem Verschwinden des Adenosin durch Regenerierung von ATP geführt.
Damit könnten wir einen ersten Baustein für den Krankheitsmechanismus gefunden haben: Bei körperlicher oder geistiger Anstrengung benötigt der Körper viel Energie. Wenn der Nachschub an ATP nicht ausreicht, werden auch ADP und AMP als Energieträger herangezogen. Es entsteht dann Adenosin, was zu Müdigkeit und Erschöpfung führt. Wenn man am nächsten Morgen zwar wach wird, sich aber nicht ausgeruht und kraftlos fühlt, ist dies Anzeichen, dass immer noch eine erhöhte Konzentration an Adenosin vorliegt. Mitochondrien benötigen ADP als Substrat für die ATP-Bildung; Adenosin und AMP werden von der ATP-Synthase als Substrate nicht akzeptiert. Wenn durch den vermehrten Abbau von ADP zu AMP und Adenosin zu wenig ADP für die Regenerierung von ATP zur Verfügung steht, gerät der Körper in einen Teufelskreislauf. Da ATP für praktisch alle Körpervorgänge als Energiequelle dient, sind bei einem chronischen ATP-Mangel Defizite und Störungen im gesamten Körper zu erwarten. Genau das findet man bei schwer an ME/CFS erkrankten Menschen, weshalb man von einer Multisystemerkrankung spricht.
Wenn unsere Hypothese richtig ist, sollten im Gewebe von Patienten, die an ME/CFS leiden, im Vergleich zu gesunden Menschen erhöhte Konzentrationen an Adenosin und AMP vorliegen, während die Konzentration von ADP und ATP erniedrigt sein sollten. Diese Hypothese sollte sich empirisch überprüfen lassen.
Wenn die Energieversorgung durch ATP stockt , kann das verschiedene Ursachen haben: Entweder fehlt es an den Ausgangsstoffen - energiereichen Substanzen und dem für die Verbrennung nötigen Sauerstoff - oder die Maschinerie zur ATP-Erzeugung in den Mitochondrien ist gestört.
Um zu verstehen, wie es zur Störung des Energiestoffwechsels kommt, wollen wir an dieser Stelle den dritten Schritt der ontogenetischen Denkmethode vorziehen. Befassen wir uns also mit der Frage, wie ME/CFS entsteht.
Genese von ME/CFS
Auslöser von ME/CFS ist in vielen Fällen eine Infektion. Die typischen Symptome von ME/CFS zeigen sich aber nicht sofort, sondern meistens erst dann, wenn die Infektion eigentlich schon vorüber ist - manchmal sogar erst Jahre später. Daher kann es nicht der Erreger selbst sein, der die Symptome von ME/CFS bewirkt, etwa durch Befall eines bestimmten Gewebes. Eher steht zu vermuten, dass das Immunsystem auch nach Abklingen der eigentlichen Infektion noch aktiv bleibt und sich nun statt gegen den Errreger gegen körpereigene Ziele richtet.
Tatsächlich wurden bei ME/CFS-Patienten sogenannte Autoantikörper im Blut gefunden. Wurden diese durch eine Blutwäsche entfernt, besserten sich bei einem Teil der Patienten die Krankheitssymtome. Einen durchschlagenden Erfolg hat dieser Therapieansatz allerdings nicht gezeigt. Daher steht zu vermuten, dass die Fehlregulation des Immunsystems auch auf andere Weise erfolgt. Einen Hinweis in diese Richtung haben Forscher um Prof. Baur von der Uniklinik Erlangen gefunden, die sogenannte extrazelluläre Vesikel aus dem Blut von Gsunden und Kranken extrahiert und auf ihren Inhalt hin untersucht haben. Demnach finden sich im Blut von Gesunden nur wenige solche Vesikel, die zudem leer sind, während Krankheiten wie Krebs, Alzheimer und auch Long Covid mit einer erhöhten Zahl dieser Vesikel einhergehen, die zudem spezifisch mit bestimmten Molekülen beladen sind. Durch den Wirkstoff Hymocromon lassen sich diese Vesikel im übrigen so verändern, dass sie nicht mehr vom Blut in die Gehirndflüssigkeit übergehen können. In Heilversuchen hat sich gezeigt, dass die Gabe von Hymochromon zu einer allmählichen Verbesserung des Zustands von Long-Covid-Patienten führte, während beim Absetzen der Wirkstoffgabe eine rapide Verschlechterung des Zustands einsetzte. Diese interessanten Ergebnisse sind jedoch bislang nur mit einer kleinen Zahl an Patienten erzielt wurden und noch nicht statistisch in einer größen Studie validiert worden.
Das Ergebnis von Prof. Baur legt nahe, dass die Zielstrukturen, die vom fehlgeleiteten Immunsystem angegriffen werden, im Gehirn zu finden sind. Tatsächlich findet man bei Patienten, die schwer an ME/CFS erkrankt sind, strukturelle und funktionelle Veränderungen im Gehirn, die man mit MRT sichtbar machen kann. Außerdem ist bekannt, dass der Sympathikus bei Menschen mit ME/CFS fehlreguliert ist. Der Sympathikus gehört zusammen mit seinem Gegenspieler - dem Parasympathikus - zum vegetativen Nervensystem, das die Aktitivität der inneren Organe steuert. Bei gesunden Menschen hat der Symphatikus tagsüber die Oberhand und wirkt aktivierend auf alle vegetativen Prozesse ein. Nachts hingegen sorgt der Parasymphatikus für Erholung und Entspannung.
ME/CFS-Patienten klagen darüber, dass ihr Schlaf nicht erholsam ist. Am Morgen fühlen sie sich wie zerschlagen - vor allem nach einer Überanstrengung am vorherigen Tag. Dass deutet daraufhin, dass die Aktivität von Symphatikus und Parasymphatikus während des Nachschlafs nicht in normalen Bahnen verläuft. Wenn diese Hypothese richtig ist, sollte sie sich empirisch überprüfen lassen. Zudem bietet sie einen vielversprechenden Ausgangspunkt, um eine kausale Verbindung zu den Defiziten im Energiestoffwechsel herzustellen. Diese Brücke bildet der Herzschlag, der zwar autonom durch den sogenannten Sinusknoten im Herzen angeregt wird, der aber einer Globalsteuerung durch Sympathikus und Parasymphatikus unterliegt.
Herzratenvariabilität als "missing link"
Anders als mancher vielleicht annimmt, schlägt das Herz eines gesunden Menschen keineswegs absolut regelmäßig. Die zeitlichen Abständen zwischen zwei Herzschlägen sind tatsächlich variabel und zufällig verteilt. Wenn hingegen die Abstände zwischen den Herzschlägen wenig variabel sind und einem regelmäßigem Muster folgen, ist dies ein klarer Hinweis auf auf eine verminderte Fähigkeit, mit körperlichen oder psychischen Belastungen fertig zu werden.
Spitzensportler trainieren bestimmte Atemtechniken, um ihre Herzratenvariabilität zu erhöhen und damit ihre körperliche Leistunsgfähigkeit zu steigern. Umgekehrt ist bekannt, dass eine niedrige Herzratenvariabilität mit dem Auftreten von Depressionen und Angststörungen korreliert ist. Auch bei ME/CFS-Patienten wird eine verringerte Herzratenvariabilität beobachtet, wobei sich eine starke Korrelation zwischen Momentanbefinden und aktueller Herzratenvariabilität zeigt, die sich mit Handy-Apps einfach messen lässt.
Bislang wird die Herzratenvariabilität als diagnostischer Marker für den Gesundheitszustand angesehen. Vielleicht steckt aber mehr dahinter. Kann es sein, dass der diagnostische Wert der Herzratenvariabilität auf einem kausalen Zusammenhang zwischen Herzfrequenz und körperlicher Fitness beruht, der bislang jedoch wenig beachtet wird?
Hauptfunktion des Herz-Kreislauf-Systems ist es, Sauerstoff von den Lungen in die Peripherie des Körpers zu transportieren. Der Sauerstoff dockt in den Lungen an das Hämoglobin in den roten Blutkörperchen an und wird in den dünnen Kapillargefäßen an das umgebende Gewebe abgegeben. Könnte es sein, dass die Herzratenvariabilität einen Einfluss darauf hat, wie effektiv die Abgabe des Sauerstoffs in den Kapillargefäßen erfolgt? Biophysikalisch erscheint diese Hypothese nicht vollkommen abwegig. In den großen Blutgefäßen der Arterien herrscht aufgrund der Pumptätigkeit des Herzens ein schwallartiger Blutfluss. Beim Übergang zu den Kapillargefäßen muss dieser schwallartige Blutfluss in eine gleichmäßige Strömung übergehen. Gleichmäßige Stoßanregungen führen jedoch bekanntermaßen in allen physikalischen Systemen zu Resonanzeffekten. Diese könnten möglicherweise für die Sauerstoffabgabe in den Kapillargefäßen hinderlich sein. Wenn diese Vermutung richtig ist, dann wäre eine chaotische Verteilung der Herzfrequenzen physiologisch entscheidend für eine ausreichende Sauerstoffversorgung im peripheren Gewebe. Dass Spitzensportler ihre Herzratenvariabilität zu steigern versuchen, um eine höhere körperliche Leistungsfähigkeit zu erzielen, ist ein starkes Indiz, dass unsere Vermutung plausibel ist. Allerdings sind mir keine experimentellen Belege für den vermuteten Zusammenhang zwischen Herzratenvariabilität und Sauerstoffabgabe durch die roten Blutkörperchen in den Kapillargefäßen bekannt. Ein solcher Nachweis wäre eine Schlüsselexperiment, um den hier abgeleiteten Krankheitsmechanismus für ME/CFS zu belegen.
Nach meiner Kenntnis der wissenschaftlichen Literatur ist der hier abgeleitete Krankheitsmechanismus bisher noch nie diskutiert worden. Mir erscheint die vorgestellte Erklärung über die verminderte Herzratenvariabilität jedoch plausibel und geeignet, alle wesentlichen Eigenheiten von ME/CFS zu erklären. Daher hielte ich es für wert, die wesentlichen Elemente des vermuteten Krankheitsmechanismus einer experimentellen Überprüfung zu unterziehen:
- Ist die Herzratenvariabilität tatsächlich für die Sauerstoffabgabe der roten Blutkörperchen in den Kapillargefäßen entscheidend?
- Sinkt die Herzratenvariabilität von ME/CFS-Patienten vor allem nachts ab? Ist dafür ein gestörtes Aktivitätsverhalten von Symphatikus und Parasymphatikus ursächlich?
- Liegen bei ME/CFS-Patienten neuroinflammatorisch verursachte Schädigungen in den Hirnregionen vor, die die Aktivität von Symphatikus und Parasymphatikus beeinflussen?
- Liegen im Gewebe von ME/CFS-Patienten ungewöhnlich hohe Konzentrationen an Adenosin und Adenosinmonophosphat vor, während die Konzentrationen von ADP und ATP ungewöhnlich niedrig sind?
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