Es wird ein Zusammenhang zwischen relativer Luftfeuchte und Übertragungseffizienz von Atemwegsinfektionen hergestellt. Die theoretischen Überlegungen werden anhand von Daten zum saisonalen Verlauf der Corona-Pandemie bestätigt. 

Atemwegsinfektionen werden überwiegend über die Luft übertragen, die ein Infizierter ausatmet. Die Viren „reisen“ dabei in winzigen Wassertröpfchen, den Aerosolen, durch die Luft. Dieser Übertragungsweg über die Luft unterliegt unweigerlich jahreszeitlich schwankenden Einflüssen. Ein naheliegender Einflussfaktor ist dabei die Luftfeuchte: Denn je geringer die relative Luftfeuchte, desto schneller verdunstet das Wasser aus den Wassertröpfchen und die Viren verlieren ihr Transportvehikel. Ist umgekehrt die relative Luftfeuchte hoch, desto länger können sich die mit Viren beladenen Aerosole in der Luft halten. Folglich sollte eine hohe relative Luftfeuchte die Ausbreitung der vergleichsweise großen Influenza- und Corona-Viren begünstigen, denn je länger sich die Viren in ausreichender Konzentration in der Luft halten können, desto günstiger für ihre Übertragung von Wirt zu Wirt. Bei den kleineren Adeno- und Enteroviren sollte die relative Luftfeuchte hingegen keinen so starken Einfluss auf die Verbreitung haben.

Welcher Zusammenhang besteht nun zwischen Jahreszeit und Luftfeuchte?

Im Winterhalbjahr ist die relative Luftfeuchte im Allgemeinen höher als im Sommerhalbjahr. Zudem gibt es vor allem im Sommerhalbjahr eine ausgeprägte tageszeitliche Schwankung – in den späten Abend- und frühen Morgenstunden steigt die relative Luftfeuchte deutlich an und Taubildung setzt ein, während tagsüber der kräftige Sonnenschein die Luft erwärmt und die relative Luftfeuchte absenkt.

 Relative Luftfeuchte an einem WintertagRelative Luftfeuchte an einem Sommertag

Abbildungen: Relative Luftfeuchte an einem Sommertag im Vergleich zu einem Herbsttag (Daten des Deutschen Wetterdienstes für die Messstation Berlin-Buch, relative Luftfeuchte in 2m Höhe über Boden stündlich gemessen am 26.6.2021 bzw. 24.11.2021).

Für die Ausbreitung eines Virus ist es vorteilhaft, wenn ein Infizierter auf möglichst viele verschiedene potenzielle Wirte trifft und die Effizienz der Übertragung von ihm zu einem neuen Wirt möglichst hoch ist. Es liegt nahe, dass in Innenräumen mit wenig Luftaustausch die Übertragungseffizienz höher ist als im Außenraum. Andererseits ist es so, dass wir in Innenräumen – etwa zuhause oder im Büro – meist nur mit wenigen und vor allem den gleichen Menschen zusammenkommen, wenn man von „Superspreading-Events“ wie Feiern, Clubbesuchen, Chorauftritten o.ä. absieht. Auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln begegnen wir hingegen jeden Tag sehr vielen Menschen flüchtig. Bei diesen flüchtigen Begegnungen ist die Wahrscheinlichkeit einer Virusübertragung gering, aber nicht ausgeschlossen, wie die Beobachtung in einer Einkaufspassage in Australien gezeigt hat, dass eine Übertragung von SARS-CoV-2 auch bei einer flüchtigen Begegnung im Vorbeilaufen geschehen kann. Wenn nun die Übertragungswahrscheinlichkeit bei flüchtigen Begegnungen durch eine höhere relative Luftfeuchte verbessert wird, könnte dies einen signifikanten Einfluss auf die Ausbreitung der relativ großen Influenza- und Corona-Viren haben und deren saisonale Ausbreitungsdynamik erklären.

Hier kommt nun noch unser Verhalten ins Spiel: Zahlreiche flüchtige Begegnungen haben wir vor allem in den Vormittagsstunden (6-9 Uhr) auf dem Weg zur Arbeit und in den späteren Nachmittagsstunden (15-19 Uhr) auf dem Weg zurück von der Arbeit und bei alltäglichen Besorgungen. Im Sommer scheint die Sonne zu diesen Zeiten und drückt die relative Luftfeuchte nach unten, zudem schädigt die UV-Strahlung die in der Luft befindlichen Krankheitserreger. Im Winterhalbjahr dagegen sind wir vor allem in der Morgen- und Abenddämmerung draußen unterwegs, wenn die relative Luftfeuchte hoch ist und kein UV-Licht vorhanden ist.

Empirische Überprüfung 

Die hier entwickelte Hypothese zur Erklärung der jahreszeitlichen Schwankungen einiger Atemwegs­infektionen ist zunächst spekulativ und bedarf der Überprüfung. Da die Argumentationskette auf physikalischen, biologischen und sozialen Zusammenhängen beruht, ist dafür ein interdisziplinäres Zusammenwirken verschiedener Wissenschaftsgebiete nötig. Insbesondere wäre es wünschenswert, die hier nur aus theoretischen Überlegungen abgeleitete Abhängigkeit der Schwebedauer der Viruspartikel von deren Durchmesser und der relativen Luftfeuchte empirisch zu bestätigen.

Auch wenn der hier vorgestellte Zusammenhang zwischen Luftfeuchte und Virenausbreitung nicht streng bewiesen ist, zeigt der Verlauf der Corona-Pandemie einige empirische Hinweise in dieser Richtung. In untenstehender Grafik dargestellt ist die Korrelation zwischen der Anzahl der täglichen Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 in Berlin (Wochenmittel für jede Kalenderwoche) und der relativen Luftfeuchte, gemessen vom Deutschen Wetterdienst an der Messstation Berlin-Buch in 2m Höhe (Wochenmittel gebildet aus den täglichen Stundenwerten zu den Uhrzeiten 7 Uhr, 9 Uhr, 15 Uhr, 17 Uhr, 19 Uhr).

Korrelation zwischen Luftfeuchte und Ccoronainfektionen

Abbildung: Korrelation zwischen relativer Luftfeuchte und Neuinfektionen während der Corona-Pandemie 2020/21

Zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 ging die Zahl der täglichen Neuinfektionen in Deutschland schon recht bald wieder zurück, obwohl die Lockdown-Beschränkungen noch gar nicht in Kraft getreten waren und ihre Wirkung entfalten konnten. Dieser merkwürdige Umstand wurde von vielen Kommentatoren auf die freiwillige Einschränkung der sozialen Kontakte zurückgeführt, die viele Menschen bereits vor der Verodnung des Lockdowns vorgenommen hätten. In der oben abgebildeten Grafik erkennt man aber auch eine Korrelation mit der sehr niedrigen Luftfeuchte, die von Mitte März bis Ende April aufgrund zuströmender trockener Polarluft in Deutschland vorherrschte. Nach unserer Hypothese wurde dadurch die Übertragungseffizienz bei flüchtigen Kontakten im Außenraum reduziert, was zusammen mit der Beschränkung der sozialen Kontakte zu einem sehr schnellen Zusammenbruch der ersten Infektionswelle im Frühjahr 2020 führte. 

Hingegen ein Jahr später, im Frühjahr 2021, ging die Zahl der täglichen Corona-Infektionen anders als erwartet lange Zeit nicht zurück, bis dann Ende Mai 2021 die Infektionszahlen sehr stark fielen. In den Medien wurde der drastische Rückgang vor allem auf die „Bundesnotbremse“ zurückgeführt, mit der die Kontakte zwischen Menschen beschränkt wurden. Wenn diese Erklärung zutreffend wäre, hätten die Infektionszahlen nach Aufhebung der Kontaktbeschränkungen im Juni 2021 wieder sehr rasch ansteigen müssen, was aber nicht passierte. Plausibler erscheint ein kausaler Zusammenhang mit der relativen Luftfeuchte, die im März/April 2021 deutlich höher als zur gleichen Zeit im Vorjahr lag und die Infektionszahlen auf hohem Niveau verharrten, während beim Einzug der kalten und trockenen Polarluft ab Ende Mai bis Mitte Juni 2021 die Neuinfektionen stark zurückgingen.

Der gegenteilige Effekt zeigte sich jeweils im Herbst, wenn die relative Luftfeuchte der Außenluft ganztägig hohe Werte aufweist. Im Herbst 2020 lag die relative Luftfeuchte bereits ab Ende September vormittags und nachmittags häufig bei Werten zwischen 80% und 90%, während dies 2021 erst im November der Fall war. Wie aus der Grafik ersichtlich, stiegen parallel die Corona-Infektionen im Herbst 2020 mehrere Wochen früher als im Herbst 2021 auf sehr hohe Niveaus an. 

In der Grafik sind zusätzlich die Zeitpunkte der ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sowie das Aufkommen neuer Virusvarianten eingetragen, die mit Sicherheit ebenfalls einen Einfluss auf das Pandemiegeschehen hatten. Trotz dieser vielfältigen Einflüsse erkennt man eine klare Korrelation zwischen der relativen Luftfeuchte in der Außenluft und der Zahl der Neuinfektionen. Dieser bemerkenswerte Befund deutet darauf hin, dass die relative Luftfeuchte tatsächlich ein relevanter Einflussfaktor für die saisonale Dynamik bestimmter Atemwegsinfektionen ist.

Konsequenzen

Wenn die in diesem Aufsatz dargelegte Argumentationskette richtig ist, dann verdient der Übertragungsweg über flüchtige Begegnungen mehr Beachtung als bisher. In der Tat ist es ja so, dass bei einem hohen Prozentsatz (ca. 80 Prozent) der Corona-Infektionen die Quelle der Ansteckung unbekannt war und mutmaßlich in flüchtigen Begegnungen zu suchen ist. Als Konsequenz ergäbe sich die Empfehlung, im Winterhalbjahr auch im Freien auf dem Weg von und zur Arbeit und bei Besorgungen eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen – jedenfalls dort, wo man vielen Menschen flüchtig begegnen kann. Außerdem sollten Innenräume mit sehr hohen Luftfeuchten gemieden werden – ein Besuch im Hallenschwimmbad ist bekanntlich immer eine gute Gelegenheit, mit einem Atemwegsinfekt nach Hause kommen.

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Einschätzung 

Stärken:

Der Ansatz argumentiert logisch, ausgehend vom Verbreitungsweg der Viren über die Luft. Die Argumentation verknüpft dabei immunologische, meteorologische und verhaltensbedingte Einflüsse auf das Infektionsgeschehen. Die theoretische Ableitung wird durch empirische Beobachtungsdaten untermauert, die eine Korrelation zwischen der relativen Luftfeuchte und der Zahl der Neuinfektionen während der Corona-Pandemie 2020/21 erkennen lassen.

Schwächen:

Der Erklärungsansatz steht im Widerspruch zum wissenschaftlichen Konsens, dass die Übertragung von Atemwegsinfekten im Außenraum eine deutlich untergeordnete Rolle gegenüber der Übertragung im Innenraum spielt. Die Korrelation zwischen Luftfeuchte und Corona-Infektionen wird nur am Beispiel Berlins gezeigt - es bliebe zu verifizieren, ob sich der Zusammenhang auch in anderen Gegenden bei den Infektionen mit Corona oder anderen saisonal auftretenden Viren findet. Zudem fehlen experimentelle Belege für die Annahme, dass die Luftfeuchte nur bei den behüllten Viren mit einem großen Durchmesser einen entscheidenden Einfluss auf die Verweildauer in der Luft hat, bei den kleineren Viren hingegen nicht. 

 

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